Klage, Unruhe, Angst, Tränen sind willkommen und bekommen einen Ort

​Je länger die alltäglichen Beschränkungen andauern und je mehr wir persönlich oder bei Angehörigen Erfahrungen mit Covid-Erkrankungen machen, umso mehr stoßen wir auch an unsere psychischen Grenzen: Wir reagieren mit Wut, Ärger, Traurigkeit, Ermüdung, Leistungsabfall.  Individuell und kollektiv nehmen verschiedene Formen der Angst zu. Zugleich wächst unser Widerstand und unsere Unzufriedenheit. All dies sind normale Reaktionen auf ein außergewöhnliches Ereignis.

Philosophie und Spiritualität, Psychologie und Soziologie machen uns aufmerksam, dass wir an Urerfahrungen unseres Menschseins stoßen: die Endlichkeit des Lebens, Begrenztheit und Unverfügbarkeit von Lebensmöglichkeiten. Gleichzeitig rebellieren wir Rebellion dagegen, denn es drängt uns eine Sehnsucht nach Glück, nach Schönheit und Fülle, nach Leben. All das ist unser Leben, all das sind wir (Maidl, 2018; Rosa, 2018; Unruh, Moeslein-Teising, & Walz-Pawlita, 2018).

Es gibt religiöse Traditionen, die dazu ermutigen, die Not auszudrücken. Nicht selten finden Menschen dadurch in eine Haltung der Gelassenheit und der Demut.

Spirituelle Impulse

→ Selbstreflexion

  • Nehmen Sie wahr, wie es Ihnen gerade geht, ohne es zu beurteilen oder zu verurteilen.
  • Äußeren Sie Ihre Gefühle und Empfindungen so, wie es Ihnen möglich ist: Sprechen Sie darüber, malen Sie oder werden Sie sonst aktiv (laufen, gärtnern, im Wald schreien…).
  • Auch Klagen und Hadern darf sein.
  • Lassen Sie auch Tränen zu. Der Prozess des Weinens ist ein Zeichen der Lebendigkeit. Etwas löst sich, kommt in Fluss.
  • Auch Seufzen entlastet.
  • Vielleicht hilft es, wenn Sie sich an einen Bach oder Fluss setzen oder entlanggehen: Werfen Sie Ihre Sorgen ins Wasser und lassen Sie diese wegspülen, evtl. auch geschrieben auf ein Blatt, das Sie zu einem Boot falten.

    Indem wir unsere Emotionen auch körperlich zulassen – freilich in aller Achtsamkeit für uns und Andere -, bleiben wir in Kontakt mit uns, bleiben wir lebendig. Das hilft, nicht zu verbittern oder das Eigene destruktiv gegen andere zu äußern.

→ Spirituelle Impulse aus der Literatur

Rainer Maria Rilke, aus: Briefe an einen jungen Dichter

„ […] und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst lieb zu haben, wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie jetzt nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antworten hinein.“

aus: Rilke RM (1950) Briefe, 1. Band: 1897 bis 1914. Hg. vom Rilke-Archiv in Weimar. Wiesbaden: Insel-Verlag. 49.

Hilde Domin: Bitte

wir werden eingetaucht
und mit den Wassern der Sintflut gewaschen
wir werden durchnässt
bis auf die Herzhaut

der Wunsch nach der Landschaft
diesseits der Tränengrenze taugt nicht
der Wunsch, den Blütenfrühling zu halten,
der Wunsch, verschont zu bleiben
taugt nicht

es taugt die Bitte,
dass bei Sonnenaufgang die Taube
den Zweig vom Ölbaum bringe.
Dass die Frucht so bunt wie die Blüte sei,
dass noch die Blätter der Rose am Boden
eine leuchtende Krone bilden

und das wir aus der Flut
dass wir aus der Löwengrube und dem feurigen Ofen
immer versehrter und immer heiler
stets von neuem
zu uns selbst entlassen werden.

aus: Domin H (2010) Sämtliche Gedichte. Hg. von Herweg N und Reinhold M. Frankfurt a.M.: Fischer. 181f.

Impulse aus den Religionen

→ Judentum und Christentum

Judentum und Christentum kennen eine Tradition des Klagens. Es kann daher sehr hilfreich sein, Menschen zu ermutigen, diese Ressource zu nutzen, um Last loszuwerden und neu Vertrauen zu gewinnen:

Klagemauer:

In der jüdischen Tradition kommen Menschen aus aller Welt zur Klagemauer nach Jerusalem, um hier ihre Klagen vor Gott zu bringen, auf kleinen Zetteln, die sie in Mauerritzen stecken, damit Gott sie erhöre, und mit anderen Bräuchen und Festlichkeiten.

In manchen Kirchen oder Kapellen findet sich auch eine „Klagemauer“, wo Menschen ihre Nöte ablegen können.

Klagepsalmen:

Klagen ist nicht ein Ausdruck von Unglauben, sondern des Glaubens: Wenn ein Mensch aus seiner Sehnsucht heraus klagt, sich beklagt, auch Gott anklagt, so nimmt er seine Sehnsucht nach Leben und Glück ernst und ebenso die göttlichen Verheißungen, dass Gott ein Gott des Lebens in Fülle ist, der alle Tränen trocknen wird. Klagend nimmt er Gott beim Wort und ruft danach, dass sich doch zeigen solle, was dies meint.

Beispiele sind die Psalmen 3; 13, 22; 77. Sie können diese finden im Wortlaut der Einheitsübersetzung unter: https://www.bibleserver.com/EU/

Tränen

Über viele Jahrhunderte hinweg wussten Menschen ihre Tränen zumindest von Gott gesehen und gesammelt.
Psalm 56,9: Sammle meine Tränen in deinem Krug; ohne Zweifel, du zählst sie!
Psalm 126,5: Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.

→ Islam

Trauern, Klagen und Weinen ist bei muslimischen Personen, weil sie aus sehr unterschiedlichen Kulturen kommen, in verschiedenen Formen erlaubt oder nicht erlaubt. Bei manchen gilt es als nicht angemessen, da alles aus Gottes Hand kommt, bei anderen ist gerade angesichts des Todes ein leises Klagen und Weinen erlaubt, bei anderen gibt es laute Klagerituale.

Ein Klagelied aus dem Sufismus

Mevlana Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī (geb.1207 in Balkh, Afghanistan, gestorben 1273 in Konya, Türkei) Auszug aus dem Eingangsgedicht der Dichtung „Mesnewi (Mathnawi)“:

„Hör‘ auf der Flöte Rohr, was es verkündet,
Hör‘, wie es klagt von Sehnsuchtsschmerz entzündet:

`Als man mich abschnitt am beschilften See,
Da weinte alle Welt bei meinem Weh.

Ich such‘ ein sehnend Herz, in dessen Wunde
Ich gieße meines Trennungs-Leides Kunde.

Sehnt doch nach des Zusammenweilens Glück
Der Heimatferne allzeit sich zurück.

Klagend durchzog ich drum die weite Welt,
Und Schlechten bald, bald Guten beigesellt,

Galt Jedem ich als Freund und als Gefährte,
– Und Keiner fragte, was mein Herz beschwerte.“

aus: Dschalāl ad-Dīn Muhammad Rūmī. Mesnewi. Übersetzt von Rosen G 1849. http://www.deutsche-liebeslyrik.de/rumi/rumi_mesnewi1.htm (Zitierdatum 29.11.2018).

Gott anklagen

Gott anzuklagen, weil auch dem Gottesfürchtigen Unheil widerfahren kann, das ist dem Koran und der orthodoxen islamischen Tradition fremd. Lediglich die islamische Mystik kennt dieses Motiv. Die Figur des Hiob aus der jüdisch-christlichen Tradition, der mit Gott hadert, hat zwar auch in den Koran Eingang gefunden. Der Hiob des Koran (arabisch Ayoub) ist allerdings ein gottergebener Mann, der sich in sein Schicksal fügt. Von Allah darf der Mensch keine Rechenschaft erwarten.