Was sollte ich über Trauma wissen?

Trauma im Allgemeinen kann verstanden werden als Effekt überwältigender und außergewöhnlicher Erfahrungen. Diese Erfahrungen kommen meistens völlig unerwartet. Charakterisierend für eine traumatische Erfahrung ist ein Gefühl des Kontrollverlusts und der Ohnmacht. Diese Gefühle lassen die Opfer hilflos zurück. Diese Hilflosigkeit kann mehrere oder alle Lebensbereiche betreffen. Ein Trauma kann eine körperliche oder emotionale Verletzung sein. Traumatisierte Personen haben ein höheres Risiko für psychopathologische Symptome (Pagotto et al. 2015).

Abhängigkeitsfaktoren für die Auswirkung eines Traumas

(Kizilhan et al. 2019, S. 93f.). Einmal hängt es mit der betroffenen Person und ihren belastenden (u. a. Missbrauchs- und Gewalterfahrungen, psychische Vorerkrankungen) und positiven (Erwerb von Bewältigungsstrategien) Vorerfahrungen zusammen. So erleben derzeit beispielsweise Geflüchtete aus Syrien und aus dem Irak im Zusammenhang mit den Ereignissen im Ukrainekrieg wegen ihrer (Kriegs)Vorerfahrungen mit dem IS die Auswirkungen ihrer Traumata. Manche Betroffene fühlen sich an die Gewalterfahrungen mit dem IS erinnert und haben Angst um ihre Sicherheit.

Zweitens hängt die Auswirkung eines Traumas von Punkten ab, die direkt das traumatisierende Ereignis betreffen. Hier sind folgende Fragen wichtig: Welche Bedeutung hat das Ereignis für die betroffene Person? Ist das Leben der betroffenen Person bedroht oder sieht die betroffene Person den Tod anderer? Wie stark ist die Person der Situation ausgesetzt? Ist die Person von ideologisch motivierter Gewalt oder Vergewaltigung betroffen? So wirkt sich ein Trauma, das sich jeweils in einem Verkehrsunfall, durch eine Naturkatastrophe oder durch Gewalttaten im Krieg ereignet, jeweils anders aus. Ein Trauma aus dem Krieg oder aus einer Vergewaltigung wirkt sich schlimmer und erheblicher aus als ein Trauma aus dem Verkehrsunfall. Das hat vor allem folgende Gründe: Eine Vergewaltigung greift das intime Selbst an. Das löst massive Gefühle von Erniedrigung und Demütigung aus. Eine Gewalttat im Krieg oder ein ideologisch (religiös, politisch) motivierter Gewaltakt wird als beabsichtigter und mutwilliger Angriff auf die Sicherheit der eigenen Person wahrgenommen. Das zieht ein noch stärkeres Gefühl der Schutzlosigkeit nach sich (Kizilhan 2016, S. 41).

Drittens hängt die Auswirkung eines Traumas von Punkten ab, die die Zeit nach dem traumatisierenden Ereignis betreffen, z. B. die (soziale) Unterstützung betroffener Personen.

Meistens erleiden zwei ‚Sorten‘ von Personen ein Trauma. Personen, die die außergewöhnliche und überfordernde Erfahrung selbst machen, können ein Trauma erleiden. Auch können Menschen, die sehen, wie die Person mit der überfordernden Situation die überwältigende Erfahrung macht, traumatisiert sein.

Trauma und Flucht

Flucht wird in manchen aktuellen Diskussionen fälschlicherweise mit einer Traumatisierung gleichgesetzt. Dabei wird übersehen, dass viele der nach Deutschland geflüchteten Menschen keine pathologischen Trauma-Folgen haben, sondern einen Weg finden, mit z. T. extremen Erfahrungen so umzugehen, dass sie mit ihrem Alltags- und Familienleben gut zurechtkommen.
Gleichzeitig leidet ein Teil der geflüchteten Menschen infolge traumatischer Erlebnisse unter teilweise heftigen psychischen Folgen, wie z. B. Schlafstörungen oder Angstzuständen, oder unter psychischen Erkrankungen, wie z. B. einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) oder Depression. Für diese ist die Belastung mehrdimensional, denn neben den Folgen der unverarbeiteten traumatischen Erlebnisse müssen sie auch mit den Migrations- und Entwurzelungserfahrungen und dem Einfinden in einer unbekannten Umgebung mit einer fremden Sprache umgehen. Dabei wirkt sich die Traumatisierung belastend auf das Wohlbefinden und auf die Möglichkeiten der Alltagsbewältigung aus.
Eine Aufarbeitung der traumatischen Erlebnisse, z. B. durch eine Therapie, ist i. d. R. erst möglich, wenn eine stabile und sichere äußere Lebenssituation besteht, also z. B. wenn der Aufenthalt geklärt ist und eine eigene Wohnung gefunden wurde.

Trauma und Corona

Die Einschränkungen, Unsicherheiten, Ängste und Ohnmachtsgefühle im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie können bei Betroffenen zu einer Verstärkung der Hilflosigkeit und zu einer Verschlechterung der psychischen Verfassung führen. Die verordneten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, z. B. die Kontaktbeschränkungen oder die Gesichtsmasken, können für (kriegs-)traumatisierte Menschen als Trigger wirken, so dass die vergangenen traumatischen Erlebnisse und Gefühle wieder erlebt werden, als würden sie im jetzigen Moment stattfinden. Vergangenes und Gegenwärtiges vermischen sich dann. Für Betroffene ist eine psychische Stabilisierung im Moment besonders wichtig.

Transgenerationale Traumata

Aktuelle Forschungsergebnisse zeigen, dass sich psychische Reaktionen auf traumatische Erlebnisse, wie z. B. Schlafstörungen, Depressivität oder Ängste, auch auf Familien- oder Gemeinschaftsangehörige sowie auf die nachfolgenden Generationen übertragen können, ohne dass diese selbst Traumatisches erlebt hatten. Kollektive Erfahrungen der Familie oder Gemeinschaft können daher ein wichtiger „Schlüssel“ sein in der Traumaarbeit.

Die Theorie der transgenerationalen Traumatisierung (historisches Trauma) geht davon aus, dass kollektive, also gemeinschaftlich erlebte Traumata der Vergangenheit (z. B. Kolonialismus, Sklaverei, Krieg oder Genozid) bis in die Gegenwart hinein Spuren hinterlassen. Diese zeigen sich u. a. in Form einer höheren Prävalenz an psychischen und psychosozialen Belastungen (Kizilhan 2018b). Ein Verständnis dafür, wie Traumata über Generationen weitergegeben werden und wie sie die aktuelle Lebenssituation der Angehörigen von ethnischen oder religiösen Gemeinschaften (insbesondere von Minderheiten) beeinflussen können, kann neue Ansätze für die psychosoziale Begleitung bzw. Traumabehandlung aufzeigen.

Kollektive (historische) Erfahrungen, so schlimm sie auch sein mögen, können bei der Traumaarbeit im Sinne einer Resilienzstärkung „helfen“, besser mit individuellen Traumata umzugehen. Das selbst erlebte Leid wird in einen größeren Zusammenhang gestellt, wodurch leichter eine Distanz zum Erlebten hergestellt werden kann. Außerdem kann die einzelne Person auf über Generationen entwickelte Überlebensstrategien und -ressourcen zurückgreifen (z. B. Schutz in der Gemeinschaft, Religiosität), wenn diese bewusstgemacht werden.

Literatur

  • Kizilhan, Jan I. (2016): Handbuch zur Behandlung kriegstraumatisierter Frauen. Berlin: VWB Verlag.
  • Kizilhan, Jan I. (2018b): Überlegungen zur transgenerationalen Transmission von Traumatisierungen und Traumabehandlung. Trauma & Gewalt, 12(3), S. 202–212.
  • Kizilhan, Jan I., Friedl, N., Steger, F., Rüegg, N., Zaugg, P., Moser, C.T. & Hautzinger, M. (2019). Trauma Workbook for Psychotherapy Students and Practitioners, Lengerich.
  • Pagotto, Luiz Felipe/Mendlowicz, Mauro Vitor/Coutinho, Evandro Silva Freire/Figueira, Ivan/Luz, Mariana Pirez/Araujo, Alexandre Xavier/Berger, William (2015): The impact of posttraumatic symptoms and comorbid mental disorders on the health-related quality of life in treatment-seeking PTSD patients. Comprehensive Psychiatry, 58, S. 68–73.